Bei spirituellen Neulingen ist oftmals zu beobachten, dass in ihrer Vorstellung die Welt als bewusster Mensch stets auf rosa Wolken und in Ponyhöfen stattfindet. Was ihnen auch nicht zu verübeln ist, schließlich wird die Hippie-Szene von diversen Gurus – und heutzutage vor allem von selbsternannten Persönlichkeitscoaches auf Instagram, Youtube & Co. eher als Inbegriff für ein glückliches, freies und PERFEKTES Leben verkauft, Probleme lösen sich für immer und ewig in Luft auf, wenn man nur jeden Tag eine Stunde meditiert – und mindestens ein E-book über Persönlichkeitsentwicklung pro Woche kauft. Dass diese Scheinvorstellung leider nicht der Wahrheit entspricht und warum es sich trotzdem lohnt, auch in „schwierigen“ Phasen bewusst zu bleiben, möchte ich anhand eines Ereignisses erklären.
Content:
- wieso man als spirituell erwachter Mensch trotzdem noch „negative“ Phasen hat
- wieso jede Phase eine Phase des Wachstums ist – und damit ultra wichtig ist
- wieso es nichts bringt, immer zu versuchen in allem das Positive zu sehen
- wie man diese negativen Phasen besser für sich nutzen kann
Darf ich Dinge scheiße finden?
Wenn ich spirituell bin, darf ich dann eigentlich nichts mehr scheiße finden? Darf ich noch sagen „das war ein verdammter Scheiß Tag“, oder darf ich mir wünschen, jetzt an einem anderen Ort zu sein? So mancher Esoteriker würde das schon als mittelschweren Gesetzesmissbrauch einstufen. Ich allerdings finde es einfach nur herrlich, hin und wieder so richtig zu fluchen. Eigentlich macht es auch nur Sinn. Denn wer in seiner persönlichen Laufbahn als Erleuchteter schon ein fortgeschrittenes Niveau erreicht hat, dem scheint es nur einleuchtend, dass auch dann das Leben nicht nur auf Ponyhöfen und Regenbögen stattfindet, sondern man auch mal negative Gedanken hat – wobei es ja die Worte „negativ“ und „positiv“ in unserer Welt nicht mehr gibt. Und hierbei verbirgt sich auch schon der Clou: Alle, ja wirklich ALLE Gedanken haben ihre Daseinsberechtigung. Und noch viel mehr als das: Ihre Existenz ist nicht nur gestattet, sondern auch erwünscht, weil essentiell für jedwede Weiterentwicklung. „Aber, aber…mannooo..ich dachte, man hat dann einfach die ganze Zeit nur schöne Gedanken, schöne Gefühle und so. Wieso hat man denn dann immer noch so doofe Phasen, Minderwertigkeitskomplexe und Hassgedanken?“ Wirst du dich jetzt fragen. Ich kann dich beruhigen: All diese „negativen“ Momente werden immer weniger. Naja, weniger genaugenommen nicht. Denn wie du ja sicherlich weißt, wenn du im Physikunterricht gut aufgepasst hast, kann nichts einfach weniger werden. Es verwandelt sich nur in etwas anderes. Du wirst diese negativen Momente einfach anders erleben.
Positiv denken 2.0
Manchmal braucht es für so eine Wandlung schon auch ein bisschen Mut und Eigeninitiative. Ich meine damit nämlich nicht nur zu versuchen, in allem das Positive zu finden und sich irgendeinen eventuellen positiven Grund für jedes negative Ereignis auszudenken, denn insgeheim wünscht man sich eh ein möglichst schnelles Ende der aktuellen Situation herbei. Ist also keine längerfristige Lösung. Da muss was anderes her. In verschiedenen Momenten habe ich jetzt schon öfter festgestellt, dass es ganz spannend ist das unwohle Gefühl, welches mit schwierigen Situationen einhergeht, einfach mal zuzulassen und mit ihm zu schwimmen, in steter Neugier, wohin es mich wohl führt. Und bisher hat es mich immer in etwas Wunderschönes geführt.
Wenn du selbst der Fremdkörper bist
Das erste mal habe ich diesen Werdegang Ende September letzten Jahres erlebt, als ich für 5 Wochen in einem kleinen Yoga- und Meditationszentrum in Nordkalifornien Volunteering gemacht habe. Als ich dort ankam, fand ich eine Gemeinschaft vor, die schon so unglaublich familiär und geschlossen wirkte und deren Mitglieder schon so sehr miteinander vertraut waren, dass ich mir wie ein Fremdkörper vorkam. Versteht mich nicht falsch, es war nicht so, dass sie mich nicht als neues Familienmitglied aufnehmen wollten und nicht versuchten, mir mit Sätzen wie „ich habe nach meiner Ankunft auch sehr lange gebraucht, bis ich mich hier wohlfühlte“ gut zuzusprechen. Dennoch war es einfach schwierig und schließlich kann einem letzten Endes eh niemand die Arbeit abnehmen. Dazu kam noch meine Schüchternheit, ein Überbleibsel aus meiner Kindheit, die ich zwar größtenteils hinter mir gelassen habe, die aber in diversen Momenten wieder zum Vorschein tritt. Dann nämlich fällt es mir wahnsinnig schwer, bestimmte Masken fallenzulassen und einfach mein ursprüngliches, wahres Wesen zu zeigen.
Schonungslose Ehrlichkeit
Nachdem ich also mehrere Tage damit verbrachte, über meinen Schatten zu springen und das auch nach dem abermaligen Anlauf nicht wirklich geklappt hat (in Hochsprung war ich noch nie sonderlich gut), begann ich in eine Art „ist mir doch alles scheiß egal, dann bin ich halt kein Teil der Gruppe“-Haltung überzugehen. Doch ein gewisses spontanes Vier-Augen Gespräch mit Hana – eine der anderen Volunteers, welches mit der simplen Frage wie ich mich denn hier einleben würde, begann, sollte meine Art und Weise mit der Lage umzugehen, ändern. Ich beschloss, nicht wie gewohnt mit einer halb-wahren Aussage wie „oh ich finde es hier total schön, es braucht halt seine Zeit bis ich mich so richtig eingelebt habe“, zu antworten. Nein, ich beschloss, einfach schonungslos ehrlich zu sein. Und während ich so erzählte, dass ich mich nicht wirklich zugehörig fühlte, obwohl alle so nett zu mir waren und es mir schwer fiele, ich selbst zu sein, eröffnete sich mir ein ganz neuer Blickwinkel, ohne, dass ich vorher bewusst darüber nachgedacht hätte.
Schwierig ist nur doof, wenn du nicht willst, dass es schwierig ist
Ich sagte, dass ich auch diese Phase des Eingewöhnens und die Rolle des Außenstehenden, des Beobachters, ganz interessant fände. Dass es spannend wäre, die verschiedenen Stadien des Eingewöhnens bewusst zu erleben, auch wenn sie oft schwer waren. Und tatsächlich war es auch so. Ab dem Moment, ab dem ich jegliche Erwartungen – sowohl die an mich selbst als auch an meine Außenwelt – fallen ließ begann ich alles eher wie einen spannenden Film zu sehen, ich fühlte mich wie ein Journalist, der die Dinge oft einfach nur beobachtet und detektivisch erkundet und nicht gleich analysiert und wertet. Und ich liebte es. Ich hörte auf zu warten, auf den Moment, in dem sich alles ändern würde. Stattdessen blieb ich einfach im JETZT, genoss, dass ich es gerade total doof finde jeden Tag Plumsklos putzen zu müssen, wo sie doch eh innerhalb 5 Minuten wieder eingestaubt sind. Genoss es, Liz ständig an allem und jedem rummäkeln zu sehen, genoss die Hochnäsigkeit von Georgia, genoss es, mich jede Früh aufs Neue aufzuregen, wenn um 6 Uhr der Wecker klingelte – und genoss es schließlich auch, komisch nebenbei zu stehen, wenn sich 2 andere Volunteers neben mir innig umarmten. Klingt jetzt viellicht ganz schön nach „man kann sich auch Dinge schön reden und der Realität nicht ins Auge blicken“, aber ich rede hier nicht von diesem leidenschaftlichen Genuss, den man zum Beispiel hat wenn man in sein Schoko-Croissant beißt, sondern von dieser bedingungslosen, liebevollen Akzeptanz für den gegenwärtigen Moment…..Jaja, immer wieder die gleiche Leier….lebe im Jetzt, und du wirst erwachen. Aber so ist es nun einmal. Jeder, ja verdammt JEDER Moment, und mag er noch so beschissen sein, kann aufregend und interessant sein. Sowohl Momente der Liebe, der Hingabe und des Reichtums als auch Momente des Hass, des Egoismus und der Armut. Und bevor du jetzt sagst „Doris, das ist echt totaler Schmarrn den du da von dir gibst, Hass und Egoismus sind nicht aufregend und interessant sondern die Pest der Menschheit!“ sage ich dir: „Probier’s einfach aus! Was hast du schon zu verlieren? Schlimmer kann’s eh nicht werden!“
Und so wuchs ich immer mehr in die Gemeinschaft hinein, bis ich mich irgendwann als genau so wertgeschätztes und geliebtes Familienmitglied fühlte wie die anderen. Also, um die Anfangsfrage zu beantworten: Ja verdammt, du darfst Dinge scheiße finden! Solange du sie bewusst scheiße findest.