Wie oft fühlst du dich einem Menschen wirklich nahe, wirklich verbunden? Wie oft fühlst du dich dir selbst wirklich nahe, wirklich verbunden?
Als ich erlebte, wie sich echte Nähe und Verbundenheit anfühlt, ist mir bewusst geworden wie lange ich doch im Schneewitchenschlaf gefangen war und es nicht merkte. Zumindest nicht bewusst. Mein Unterbewusstsein schrie die ganze Zeit lauthals, dass es Nähe braucht. Doch wie oft hören wir das eigentliche Bedürfnis gar nicht und missinterpretieren das Schreien. Doch wenn wir unserer Sensibilität nur ein klitzekleines mehr Achtung, mehr Würde und mehr Wertschätzung geben, sie zu Wort kommen lassen, wird ganz schnell klar, was gebraucht wird.
Stattdessen schämte ich mich dafür, einfach nur Nähe zu brauchen. Einfach nur eine Umarmung und eine Kuscheleinheit zu brauchen. Einfach nur ein warmes Stück Haut auf meiner eigenen zu spüren. Was verursacht weniger Scham und stillt den Durst nach Nähe zumindest oberflächlich? Sex. Und so benutzte ich Männer – und sie benutzten mich – um einander Nähe zu geben. Dass aber Sex, eine der tiefsten Verbindungen die zwei Wesen miteinander eingehen können, etwas derart heiliges ist – denn es schafft neues Leben – und demnach mit großer Würde und Achtung behandelt werden sollte, ist in der heutigen Gesellschaft vollkommen in Vergessenheit geraten. Ich benutzte ein derartiges Heiligtum um meinen Durst nach Nähe und Zuneigung nicht zeigen zu müssen. So entfernte ich mich Stück für Stück von meiner Ursprünglichkeit und Reinheit und schuf ein sexuelles Wesen, das in kauf nahm, all die Ekstase, die es durch Sexualität erfahren hätte können, aufzugeben, nur um oberflächliche Nähe zu produzieren. Und all das, weil Scham und Verletzlichkeit im Vordergrund stand. Meine Maske zu verlieren, mich völlig entblößt und ohne jeglichen Schutz zeigen zu müssen, ja fast meine komplette, mühsam aufgebaute, Pseudoidentität stand auf dem Spiel. Mein schauspielerisches Talent beim Sex war grandios. Locker hätte ich als Pornodarstellerin durchgehen können. Grazil bewegte ich meine Hüften, aphrodisierend stöhnte ich ihm ins Ohr, von devoter Stärke durchtrieben schrie ich, dass er mich schlagen soll, über meinen Rücken kratzen soll, mich benutzen soll. Auch darin war, im Innersten, die reine, leuchtende Lust erstrahlt. Doch primär war es die Unsicherheit, die ich damit zu überdecken versuchte.
Wir betrauern oft den „Verlust von Nähe“ in unserer Gesellschaft. Wir sind schnell dabei, mit Fremden ins Bett zu gehen, haben aber eine Abneigung dagegen, emotional berührt zu werden. Als wir die Sitte der Berührung als Weg, mit Gott in Kontakt zu kommen, verloren haben, fingen wir an, uns für unsere natürlichen Triebe zu schämen und uns noch für unsere Phantasien schuldig zu fühlen.
Wir fürchten uns vielleicht deshalb so sehr davor, uns in Ekstase zu verlieren, weil damit ein Kontrollverlust einhergeht. Hingabe ist etwas, das unsere Kultur nicht fördert, noch nicht einmal die Hingabe an das Göttliche. Hingabe an das Göttliche bedeutet, uns aus unseren wohldefinierten Rollen und Welten in das Reich der Götter zu begeben, wo alles möglich ist und nichts erklärt wird. Wir haben keinerlei Vorstellung ,was uns erwartet, und deswegen fürchten wir uns. Wie der Dichter T.S. Eliot in Mord im Dom sagte, fürchten wir „die Hand am Fenstergriff und das Feuer im Dachstuhl…weniger als die Liebe Gottes“. Würden wir Ekstase, die Liebe Gottes, wirklich erfahren, hieße das, dass wir uns für tiefgreifende Veränderungen öffnen, und dazu sind wir nicht bereit. Wir rennen dem Sex hinterher, wieder auf der Jagd nach Gott, machen aber häufig unmenschliche, minderwertige dionysische Erfahrungen. Ein minderwertiger Dionysos, der in der Sexualität seinen Ausdruck findet, ist schrecklich anzuschauen. Statt des Liebesspiels erleben wir eine Vergewaltigung oder einen völlig seelenlosen sexuellen Akt. So wie wir versuchen, unseren Kopf vom Rest unseres Körpers abzutrennen, haben wir versucht, die Sexualität aus unseren Leben zu verbannen. Wir haben Sexualität ein eigenes Ghetto errichtet. Hier glitzert und spielt in dunklen Stunden das seine Musik, was im 20. Jahrhundert als sexuelle Hemmungslosigkeit gilt. Unsere sexuelle Sprache ist sehr energiegeladen, aber diese Energie strebt nicht aufwärts. Wir sagen, „kommen wir zur Sache“, „bringen wir es hinter uns“, „besorg’s mir“. Diese Ekstase auf unterster Ebene hält uns gerade so am Laufen, aber sie führt uns nicht zur Transzendenz.
Um unsere Schuldgefühle zu ertränken und die Stimmen zu übertönen, betäuben wir uns mit Alkohol und Drogen, und die Ironie dabei ist, dass diese Mittel in anderen Zeiten göttliche Sakramente waren, die eingesetzt wurden, um uns zu göttlichen Visionen zu verhelfen. Ohne die heiligen Rituale, unser Bedürfnis nach Dionysos auszudrücken, können wir es nur symptomatisch zeigen: in Form von Drogenmissbrauch, Belästigung von Kindern und häuslicher Gewalt, Raubüberfällen, Kriegen, Terrorismus und Wahnsinn.