Ein Text über? Das Sterben? Die eigene Unzulänglichkeit zu etwas Höherem in mir? Die Dramaturgie meiner Opfer-Anteile? Such’s dir aus! Darüber hinaus stelle ich euch das Phasenmodell ganzheitlicher Veränderung nach Staemmler/Bock vor. Das habe ich beschlossen, bevor ich wusste, dass ich durch das bloße Schreiben dieses Textes nochmal selbst durch jede Phase gespült werde.
Also, lasst uns die Pferde satteln:
Diesen Text hatte ich zwei Tage vor meinem ersten Aufstellungsabend geschrieben und ihn knapp eine Woche danach fertiggestellt. Ich habe beschlossen, jeden Absatz einfach so zu belassen und ihn nicht auf meinen Jetzt-Zustand upzudaten. Es ist spannend, dass ich ihn jetzt erst veröffentliche. Denn gerade fühlt es sich so an, als hätte sich eine Gestalt geschlossen. Und damit entlasse ich auch diesen Text in die Freiheit:
Kurz vor unserem ersten Aufstellungsabend, den ich mit meiner Kollegin Antje Planer organisiere, ist die Luft bei mir buchstäblich raus. Das Eis wird dünner, die Schichten dunkler, die Wellen größer. Und ich bin überzeugt davon, dass jetzt auf jeden Fall der Moment gekommen ist, an dem alles zu spät ist und nichts mehr hilft. Ich zwinge mich am Abend einzuschlafen um mich dann am nächsten Morgen wieder zu zwingen, aufzuwachen. Und die Türen des Zwingers scheinen so verschlossen wie nie zuvor. Und wenn ich in diesen Zeiten irgendetwas Liebe schenken kann, dann ist es die Selbstgeiselung.
Und ja ich weiß, dass ich mich in einer krassen Opfer-Haltung befinde, dass ich dramatisiere, dass ich doch mal einen Realitäts-Check machen solle, dass auch diese Phase wieder vorbei geht, dass ich nicht den Teufel an die Wand malen solle.
Und ich sage dazu: IS MIR DOCH SCHEIß EGAL!
Und gleich neben das Scheiß Egal gesellt sich freudig meine Scham dazu und schaut mich traurig an. Scham über meine eigene Entwicklungsunfähigkeit. Scham über meine Schwäche. Es darf kein Nein geben, ich kann meine Grenzen nicht einfach so aufziehen. Damit würde ich mein Umfeld verletzen und mich automatisch abgrenzen, so dass ich noch einsamer bin.
Und ich merke langsam, wie oft ich in diesem Scham-Kostüm verschwinde und mir das absolut nicht eingestehe. Denn Scham ist schlecht und böse und verboten und du brauchst dich doch nicht zu schämen, mein Kind! Und wütend brauchst du auch nicht sein, es ist doch alles gut!
Ja, ich muss es einfach nur auflösen. Einfach nur dahinter schauen. Ist es Trauma, ist es ein übernommener Anteil, ist es Wut auf Mama und Papa, ist es generationsübergreifende unterdrückte Scham? Hat es zu tun mit meinem abgegangenen Zwilling, meiner Oma, meinem Vater, meinem Schattenanteil, meiner Geburt, meinem Diabetes? Habe ich zu wenig meditiert, reflektiert, transformiert?
Und ich muss es mir jetzt endlich eingestehen, dass ich immer nur Umwege gegangen bin, vor meinen Ängsten zurückgeschreckt bin und absolut nicht kompetent bin, irgendjemandem mit meinem stümperhaftem Handwerkszeug helfen zu können. Es ist ein für alle mal ausgeschlossen eindeutig, dass ich versagt habe.
Wenn ich noch eine Einladung mehr zu irgendeinem Healing-Workshop bekomme, explodiere ich. Menschen, versteht doch endlich, dass das alles nichts bringt. Es gibt keine Lösung mehr. Die Welt wird untergehen.
Techno und Therapie
Neben pechschwarzem Kaffee, tinitusproduzierenden Techno-Bässen und gürtellienienunterschreitendem Sarkasmus gibt es da diese eine Sache, die mich inmitten all der Hoffnungslosigkeit entspannen lässt: Ein Phasenmodell, dass den Prozess ganzheitlicher Veränderung in der Gestalttherapie beschreibt.
Und ja, es ist ein weiteres Modell, womit wir unseren Verstand füttern können. Letzte Woche allerdings, habe ich es zum ersten mal in einer Butoh Klasse zusammen mit meinen Teilnehmern quasi „durchgetanzt“. Es erlebbar gemacht.
Danach habe ich mich so merkwürdig entspannt und verbunden mit mir und meiner Umwelt gefühlt. Und diese 6 so simplen Kreise mit irgendwelchen Punkten und Pfeilen darin haben mir in vielen Momenten der scheinbaren Ausweglosigkeit krasse Momente der Entspannung und Neu-Fokussierung ermöglicht. Deshalb möchte ich es euch hier gerne vorstellen.

Ich weiß, im ersten Moment kann diese Graphik kompliziert wirken und den Anschein haben, dass sie unseren Gefühlshaushalt überfordert statt unterstützt.
Möchtest du dich ihr dennoch widmen, was ich dir sehr ans Herz lege, empfehle ich dir folgende Herangehensweise:
– Nimm dir für jede Phase genügend Zeit, um sie auf dich wirken zu lassen
– Lasse jeden Kreis für eine Weile einfach auf dich wirken. Lass ihn durch deine Augen in deinen Körper projizieren und beobachte, wie sich deine Wahrnehmung und dein Körperbefinden verändert
– wenn du willst, schreibe zu jedem Kreis eine kleine Ansammlung von Adjektiven auf, die in dir aufploppen, während du den Kreis auf dich wirken lässt
– für mich persönlich sind die Erklärungen, die ich in der Grafik grün markiert habe, am ausschlaggebendsten.
Ich möchte im Folgenden mein eigenes Empfinden in jeder einzelnen Phase schildern und dir darüber hinaus ein paar meiner Tools verraten, wie du von der einen Phase in die nächste „hüpfen“ kannst. Was ich dir aus meiner eigenen Erfahrung vorab mit auf den Weg geben möchte: Sei nicht enttäuscht, wenn du das Gefühl hast, dass du immer wieder in einer Phase steckenbleibst. Dass sich gefühlt nichts vorwärts bewegt, du dich eher wieder zurückgeworfen fühlst. Auch wenn wir am liebsten einfach jede „Baustelle“ in unserem Leben nach einem festen Plan abarbeiten möchten, sind die ultrafeinen Bewegungen in unserem emotionalen und seelischen Körper manchmal für unser Bewusstsein nicht verständlich. Manchmal scheint es, als hätten sie einen ganz anderen Plan, eine ganz andere Landkarte in der Hand. Doch hab Vertrauen, dass dein System ganz genau weiß, was es tut, und das es immer auf Fülle und Wachstum ausgerichtet ist. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als würde sich alles gegen dich stellen.
Nun aber zu den Phasen:
Phase 1 – Stagnation
In der ersten Phase, der Stagnation, fühle ich mich einfach nur starr und unbeweglich. Ich bin überzeugt davon, dass ich nichts an der Situation ändern kann beziehungsweise jeder Änderungsversuch noch anstrengender als der Ist-Zustand wäre. Ich bin der Situation erlegen. Das Universum hat eben so entschieden. Ich fühle mich taub und passiv. Es scheint nur diesen einen Weg zu geben. Ich kann mich zwar erinnern, dass es auch mal anders war, dass ich mich auch mal anders fühlte, aber in diesem Moment bin ich überzeugt davon, dass ich mich nicht anders entscheiden kann. Ich nehme mein Umfeld kaum war und wenn, dann wirkt es eher abweisend und kühl. Ich möchte mich gern einigeln und im Nichts-tun verweilen.
Der Ausweg aus dieser oder eigentlich jeder Phase ist, sich darüber bewusst zu werden, dass man sie in diesem Moment gerade selbst produziert. Man ist ihr nicht erlegen sondern man entscheidet sich dazu, sich von ihr erlegen zu lassen. Wie es im grün markierten Kasten heißt: Befreie dich von der Illusion deiner
Ver-antwortungs-losigkeit! Hier gibt es eine Situation, die von DIR eine Antwort möchte! Höre ihr zu, welche Frage sie dir stellt! Was möchte hier gerade erfahren werden?
Du kannst in jedem Stadium auch sehr gut mit den Kreisen auf der Abbildung oben arbeiten, indem du dich auf einen Kreis fokussierst und BEWUSST in den Zustand (z.B. der Starre) gehst und diesen noch verstärkst. Fühle ganz bewusst, wie sich deine Starre anfühlt. Wie ist dein Atem? Wie fühlen sich deine Muskeln an? Wie fühlt sich der Boden unter deinen Füßen an? Wie nimmst du deine Umwelt wahr?
Das gegenwärtige Gefühl zu verstärken, kann mehr Klarheit schaffen und dich dem gegenwärtigen Moment mehr öffnen und in die Annahme bringen.
Phase 2 – Polarisation
In der zweiten Phase, der Polarisation, fühle ich mich wortwörtlich zweigeteilt. Ich erfahre vieles gegenteilig. Kaum habe ich mich für eine Seite entschieden, wirft es mich schon wieder auf die andere Seite. Mein Leben kommt mir vor wie auf einer Schiffsschaukel, die im großen Bogen ständig von der einen zur anderen Seite pendelt. Es sind die Polaritäten, die uns überhaupt am Leben halten. Egal wo wir hinschauen entdecken wir Polaritäten unserer Existenz. Einatmen – Ausatmen, Hell – Dunkel, Warm – Kalt, Öffnen – Schließen. Tatsächlich können wir uns die Bewegung unserer Psyche im Zustand der Polarisation wie unser Ein- und Ausatmen vorstellen. Beim Einatmen werden wir größer, unsere Lunge und unser Bauch dehnen sich aus, wir verschaffen uns mehr Raum. Wir expandieren. Beim Ausatmen ziehen wir uns wieder zusammen. Wir werden kleiner, der Raum wird enger. Wir kontrahieren (= ziehen uns zusammen). (Spannend für die Sprachennerds: Vertrag ist abgeleitet vom Wort „Kontrakt“, das Subjekt von kontrahieren.) Ich habe in dieser Phase meist das Bedürfnis, mich für eine Seite zu entscheiden und bin gleichzeitig frustriert, weil die Kräfte in beide Richtungen gleich stark wirken. So sehe ich als möglichen Ausweg, in meiner Außenwelt nach jemandem oder etwas zu suchen, der/die/das mir die Entscheidung abnimmt. Ich scanne meine Umgebung nach Hinweisen ab, die mir sagen, für was ich mich entscheiden soll. Worüber wir uns hier bewusst werden können ist, dass wir dadurch die Verantwortung ebenso abgeben und uns von der Illusion befreien müssen, dass es eine inhaltliche Lösungsmöglichkeit für unser Gefühl gibt. Bei mir kann dieser Zustand ganz schön lange dauern und wechselt sich häufig mit dem dritten Zustand ab, der Diffusion.
Phase 3 – Diffusion
In der Diffusion finde ich mich im totalen Chaos wieder. Nichts scheint mehr logisch, nichts scheint mehr wirklich greifbar. Der Zugang zu meinen Gefühlen erscheint mir immer schwerer, alles scheint sich zu vermischen. Ich möchte immer noch Antworten aus meinem Umfeld, aber nun scheint jeder eine andere Sprache zu sprechen. Manchmal merke ich in dieser Phase auch, dass sich Menschen von mir abgrenzen und ich verstehe nicht wieso. Der Boden droht immer mehr unter meinen Füßen wegzugleiten und ich halte mich an dem fest, was es noch zu greifen gibt. Ich packe immer ausgeklügeltere Spielchen aus, um nicht enttarnt zu werden. Das letzte was ich aufgebe, ist die Kontrolle. Doch genau darum geht es in diesem Stadium. Um die Befreiung der Illusion der Kontrolle. In diesem Stadium hilft mir vor allem Bewegung, vor allem das freie Tanzen. Meinen Körper komplett dem Chaos hinzugeben erleichtert auch meinem Geist, den Zustand des Kontrollverlustes zu akzeptieren. Natürlich können wir im Tanzen immer noch viele Kontrollmechanismen am Start haben. Was mir hilft, im Tanzen loszulassen ist eine Weile wie ein Betrunkener zu tanzen, also in abstruse Bewegungen zu gehen, meinen Körper baumeln zu lassen, mich völlig von meinen ästhetischen Vorstellungen, von meinem Idealbild, zu befreien.
Phase 4 – Kontraktion
Jetzt geht es wirklich ans Eingemachte. Die Abschlussprüfung steht an. Das Leben möchte von dir nun wirklich wissen, ob du es ernst mit ihm meinst. Hier sind keine Spielchen mehr erlaubt. Und das schreibt die Spielkönigin schlecht hin 😀 Damit ist nicht gemeint, dass du nun wie ein verbissener Hund durch den Tunnel der Höllenfeuer musst. Nein. Du darfst empfangen. Du darfst leben wollen. Das Leben ist dazu da, um gelebt zu werden. Und genau dieser Prüfung unterzieht dich jetzt das Leben. Schließlich möchte es nicht ungenutzt seine Zeit bei dir absitzen, denn das Leben ist ein echter Workaholic! Es lechzt nach Lebendigkeit, nach Bewegung, nach Wachstum. Und alles was nicht gefühlt wird, was unterdrückt wird, wird in seiner Lebendigkeit erwürgt. Dazu gehört auch Schmerz und Traurigkeit und Scham und all das ganze Zeug, wovor wir halt so oft wegrennen.
Der Satz in der Graphik „Überwindung der alten Struktur“, erklärt sich hier wohl von selbst.
Also, jetzt geht’s ab durch den Geburtskanal. Ich zumindest schaffe das noch selten alleine. Ich brauche eine „Mutter“, die zusammen mit mir dableibt und mich immer wieder auffordert, dazubleiben. Die „Mutter“ kann in unterschiedlichen Formen daherkommen. Mal sind es gute Freunde, mit denen ich schon durch Dick&Dünn gegangen bin. Manchmal ist es ein Therapeut, manchmal der Sprung in den kalten See. Manchmal auch eine Person, deren Charakter ich eigentlich eher mit Wiederstand gegenüberstehe. You never know who is kicking your ass out of the box 😉
Phase 5 – Expansion
Wir haben uns durch den Engpass durchgequetscht. Im vollkommenen Unwissen, ob das, was da auf uns wartet, wirklich so viel besser ist, wie der muggelige Schoßraum unserer Mutter. Fernab der Geburtsmetaphern geht es hier darum, in etwas Neuem anzukommen. Wir expandieren, dehnen uns aus, unser Herzraum, unser ganzes System wird weiter. Wir spüren ein Gefühl der Unendlichkeit in uns. Eine starke Anbindung an Himmel und Erde. Eine Faszination gegenüber allem. Die Gier nach Neuem hat über die Angst vor Neuem gesiegt. Wir erfahren ein Gefühl der Vollkommenheit und schöpfen Kraft aus uns selbst heraus. Wenn ich merke, welchen Shift gebraucht hat, um meine neue Gestalt anzunehmen, kommt manchmal der Satz in mir hoch: „Wieso hat mir das keiner schon früher gesagt?“ Denn manchmal scheint die Lösung, nachdem wir sie gegangen sind, so lächerlich einfach. Doch es ist wichtig, diesen Schritt, den du gegangen bist, und mag er noch so klein wirken, wertzuschätzen als dein eigenes Werk. Fritz Perls sagte öfter zu seinen Klienten: „Ich schätze dich so sehr, dass ich dir deinen Prozess nicht wegnehmen möchte.“
Es ist das liebevollste, seinem Gegenüber sein Schicksal und seinen ganz individuellen Prozess zuzumuten.