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Der Weg aus toxischen Beziehungen
Das Wort “toxisch” dominiert heutzutage Artikel in psychologischen Ratgebern genauso wie Gespräche mit Freunden. Meines Erachtens viel zu leichtfertig und unbedacht. Was bedeutet es überhaupt, im psychologischen Kontext “toxisch” zu sein. Und ab wann ist eine Beziehung “giftig”? Was sind die typischen Dynamiken, die eine Beziehung giftig werden lassen und wie können wir aus diesen Dynamiken aussteigen?
Damit das Gift auch wirkt, braucht es mindestens zwei
Das haben wir schon im Chemieunterricht gelernt: Ein Element alleine kann nicht toxisch sein. Es entfaltet seine Giftigkeit erst, wenn es mit einem weiteren passenden Element in Verbindung tritt. PENG! Die Bombe platzt.
Genauso ist es bei uns Menschen auch. Zu einer toxischen Beziehung, egal ob in Freundschaft, Partnerschaft oder unter Kollegen, gehören immer zwei.
Doch nicht jede Kombination löst diese Toxizität aus.
Wenn du also schon mehrfach in solch einer Beziehung warst, dann ist es auch ein Teil in dir, der dieses Inferno immer wieder entfacht.
Den eigenen Anteil daran erkennen
Sich seine eigenen “Schattenseiten” einzugestehen ist mindestens genauso schwierig, als sich einzugestehen, in einer toxischen Beziehung festzustecken. Denn eigentlich lieben wir die andere Person – und irgendwo, tief in uns, fühlen wir uns auch von ihr geliebt.
Wenn aber Manipulation und Machtspielchen an der Tagesordnung sind, ist dieser Raum der Liebe verschüttet – und es kann sehr schwer sein, ihn wieder freizukriegen.
Doch wie erkennt man überhaupt, ob Manipulation im Spiel ist? Oftmals ist dieser erste Schritt schon eine Herausforderung, da wir aufgrund unserer frühkindlichen Prägung gewisse Dynamiken als “normal” erachten, die für Außenstehende unvorstellbar und auf den ersten Blick toxisch sind.
Hast du zum Beispiel als Kind sehr viel Anerkennung und Liebe erhalten, wenn du gute Leistungen im Hobby oder der Schule vollbracht hast? Bist du auf der anderen Seite bestraft worden, wenn deine Noten nicht so gut waren, du Dinge vergessen oder aus der erwachsenen Perspektive heraus falsch gemacht hast?
Wir alle haben ein Bestrafungs- und Belohnungssystem in uns. Und ob du’s glaubst oder nicht: Dieses System bestimmt bei der Mehrheit der Gesellschaft den Alltag.
Ein kurzer Ausflug in die Neurologie
Unser Belohnungssystem im Gehirn nennt sich mesolimbisches System. Der wichtigste Botenstoff dafür ist das Dopamin, das du vielleicht auch als Glückshormon kennst. Es beeinflusst die Psyche vor allem zur Antriebssteigerung und Motivation.
Das Belohnungssystem war und ist vor allem dazu gedacht, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. In der Anfangszeit war das lebensnotwendig, um den Menschen beispielsweise zur Nahrungsbeschaffung zu motivieren und damit die Selbsterhaltung zu sichern. Allerdings belohnt das Gehirn auch solche Verhaltensweisen und Handlungen, die nicht unbedingt (überlebens-)notwendig sind. Anders gesagt: Die Handlungen, die heute bei uns für Glücksgefühle sorgen, sind langfristig gesehen oft schädlich oder ungesund.
Ein Test mit Ratten zeigte, dass diese auf die Stimulation ihres Belohnungssystems so sehr ansprangen, dass sie den leichten Stromschlag sogar dem Essen oder Trinken bevorzugten. (Quelle: dasgehirn.info/denken/motivation/schaltkreise-der-motivation)
Wenn also jemand bei dir den richtigen “Knopf” gefunden hat, um dein Belohnungssystem so richtig zu aktivieren, kann das ebenso dazu führen, dass du alles andere, was eigentlich überlebenswichtig ist, vergisst. Zum Beispiel Essen, Trinken, sportliche Betätigung, Schlaf etc.
Dabei geht es gar nicht so sehr um den Reiz an sich, sondern vielmehr um die freudige Erwartung, dass die Befriedigung danach Glücksgefühle auslösen könnte. Da aber diese Befriedigung nur von kurzer Dauer ist, wir uns aber sehr gut an sie erinnern, funktioniert dieses System auch als Motivationssystem. Es gleicht einer Drogensucht.
Was hat nun dieser Mechanismus mit unseren Beziehungen zu tun?
Für eine Stimulation deines mesolimbischen Systems braucht es einen Trigger. Das kann zum Beispiel ein bestimmter Duft, eine Berührung oder ein ganz bestimmter Klang sein. Es kann aber auch eine ganz gezielte Verhaltensweise sein, mit der eine andere Person dir begegnet.
Als du noch klein warst, war es überlebenswichtig für dich, diese Trigger zu erhalten. Von Geburt an spürst du millimetergenau, welche Art von Trigger du brauchst. Wenn du diese nicht bekommst, sorgt dein System automatisch dafür, andere Wege zu finden. So merkst du, dass Mama eher darauf anspringt, wenn du weinst, als wenn du voller Inbrunst schreist.
Später dann merkst du, dass du mehr Bestätigung erhältst, wenn du gute Noten schreibst, als wenn du zu viel Zeit mit deinen Hobbys verbringst.
So stellt sich also unser System schon sehr früh auf Ersatzbefriedigungen ein. Wenn wir später auf einen Menschen treffen, der uns genau das gibt, nach was wir all die Jahre oder gar Jahrzehnte geschrien haben, geraten wir schnell in ein Abhängigkeitsmuster.
Bitte mach dir bewusst: abhängig zu sein, ist nicht schlimm. Es ist etwas vollkommen natürliches, einen anderen Menschen zu brauchen. Denn wir sind nun mal Rudeltiere.
Wann aber wird es zu einer toxischen Abhängigkeit?
Der erste Schritt in eine toxische Abhängigkeit ist, vom anderen zu erwarten, dass er/sie Dich glücklich macht. Ja: wir dürfen und sollen unsere Bedürfnisse klar und deutlich kommunizieren. Das heißt jedoch NIE, dass der andere diese auch stillen muss. Ebensowenig bedeutet es, dass Du für das Glück deines Partners verantwortlich bist. Hier ist also neben Selbstverantwortung auch die Fähigkeit zu klarer Abgrenzung gefragt.
Erste-Hilfe:
To do:
Beobachte dich, wie du reagierst, wenn dir jemand ein Bedürfnis nicht erfüllt. Vielleicht merkst du, dass du intuitiv mit einer Geste der Bestrafung reagierst, zum Beispiel mit stundenlangem Schweigen, oder indem du einen Konflikt auf einer anderen Ebene anzettelst.
Wie könntest du stattdessen reagieren?
Lösungsvorschlag: Wenn du deinem Gegenüber ganz offen und ohne vorwurfsvolle Haltung mitteilst, dass du dich stehengelassen oder verletzt fühlst, könnt ihr die Sache klären und sogar wichtige Erkenntnisse für eure Freundschaft oder Partnerschaft daraus ziehen. Und das wichtigste: indem du dich mitteilst, gibst du deinem Gegenüber die Chance, dich und sich selbst besser zu verstehen.
Wichtig: Verurteile dich nicht, wenn du merkst, dass du zum Beispiel mit passiver Aggression reagierst: Es sind oftmals sehr feine, im Unterbewusstsein abgespeicherte Verhaltensweisen, die dein System später im Erwachsenenalter benutzt, um auch bei anderen Bezugspersonen Bestätigung und Liebe zu erhalten.
Sei hier ehrlich mit dir und sehe gleichzeitig, dass dein kindlicher Anteil sich früher nicht anders zu helfen wusste. Zeige ihm als Erwachsener, wie es anders gehen kann!
Die gängigsten Verstrickungen
In der systemischen Arbeit benennen wir ungesunde Abhängigkeiten als “Verstrickung”.
Wie entstehen Verstrickungen?
Wenn zum Beispiel als Kind schon früh viel Verantwortung übernehmen musstest, zum Beispiel weil du viele kleinere Geschwister hattest, sich deine Eltern getrennt haben, oder deine Eltern schlichtweg überfordert waren, bist du wohl dadurch auf die Erwachsenenebene geraten. Du hast dich vielleicht sogar um deine Eltern gekümmert. Hier beginnt die Verstrickung, denn das Kind übernimmt eine Rolle, die ihm nicht angehört.
Auf der Paarebene entstehen Verstrickungen, wenn du in deinen Partner zum Beispiel deinen Vater projiziert, von ihm also eine Art von Kontakt einforderst, den du dir eigentlich von deinem Vater wünschst. Umgekehrt kann es auch sein, dass du für deinen Partner eine Art Mutterrolle übernimmst.
Wer ist Täter, wer ist Opfer?
Eine weitere sehr gängige Verstrickung ist die sogenannte Täter-Opfer Verstrickung. Es bedeutet, dass ein Part hauptsächlich in eine Art Täterschaft geht und der andere sich meist für eine Opferhaltung entscheidet. Ich benutze hier ganz bewusst das Wort “entscheiden”. Denn auch, wenn wir nicht freiwillig in diese Opferhaltung gehen wollen, gibt es doch einen erwachsenen Teil in uns, der sich dafür entscheidet – aus Gewohnheit und weil uns erstmal keine andere Reaktion darauf einfällt, wir handeln hier also intuitiv.
Vielleicht hast du schon öfter gemerkt, dass du dich und dein Handeln auch in einem Streit oder einer für dich bedrohlichen Situation beobachten kannst. Genau dieser Beobachter ist der erwachsene Teil, der den Mut aufbringen kann, erstmal “Stopp” zu sagen, durchzuatmen und sich für einen anderen Weg zu entscheiden.
Aber zurück zur Opfer-Täter Dynamik: Den Täter charakterisiert, dass er oft und voreilig mit starker Kritik und Beschämungen reagiert. Er spricht oft mit einer lauteren, agitierten Stimme, wird vielleicht sogar handgreiflich. Dabei erlaubt er sich keine anderen Emotionen außer Wut und Aggression. Denn schwach zu sein, ist für ihn das schlimmste – und auch gefährlichste.
Das Opfer hingegen wählt meist Ohnmacht als Reaktion. Schon der kleinste Ausdruck von Wut bedeutet potentielle Gefahr. Es fühlt sich schnell verletzt, bedrängt oder herumkommandiert.
Diese “Ohnmacht” kann allerdings genauso mächtig sein: Bestimmt fällt dir mindestens eine Situation ein, in der ein passiv aggressives Schweigen förmlich Wände sprengen konnte. Auch der “leidende Dramaturg” ist eine beliebte Rolle für subtilen Machtmissbrauch.
Dahinter liegt oft tiefe Verlustangst und daraus resultierende Angst sich abzugrenzen.
Beide also können die Zügel sehr fest ziehen: Denn dem Partner zum Beispiel aus Eifersucht und Verlustangst ein Verbot aufzuerlegen, das geht sowohl aus der Opfer- als auch der Täterposition heraus. Hier könnte auch der Artikel zu Neid und Eifersucht spannend für dich sein.
In den meisten Beziehungen ist die Rollenverteilung nicht so klar. Denn natürlich trägt jeder Mensch beide Anteile in sich – die des Opfers und des Täters.
Auf welcher Seite siehst du dich mehr? Auf der des Opfers oder des Täters?
Gibt es einen Ausweg?
Ja, den gibt es. Auf jeden Fall! Auch wenn meine Worte sehr dramatisch klingen (denn aus der Sicht des Opfers und des Täters ist es dramatisch!): es sind eben unterm Strich auch “nur” menschliche Verhaltensweisen.
Egal ob du dich mehr auf der Seite des Täters oder des Opfers siehst, möchte ich dir die Frage stellen: Fühlst du dich wirklich gesehen, in deiner Wahrheit und in deinem Bedürfnis? Und spürst du, dass du dein Gegenüber wirklich siehst in seiner Wahrheit und seinem Bedürfnis?
Nein? Dann herzlichen Glückwunsch. Du hast die Essenz des Täter-Opfer Spiels geknackt.
Genau das haben Täter und Opfer gemeinsam. Sie fühlen sich nicht gesehen. Sie haben Schichten von Ersatz-Emotionen auf ihre eigentliche Emotion gelegt, aus einer tiefen Verzweiflung und Einsamkeit heraus.
Ich denke, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass hier nicht nur der Anfang jeglicher Beziehungs- und Familienkriege liegt, sonder auch der großen politischen und religiösen Kriege.
Aber das ist nochmal ein anderes Thema.
To Do:
Es mag sich für dich besonders nach diesen Worten unüberwindbar anfühlen.
– Meditation – (evtl mit Audio)
Bitte nehme dir hier einen Moment Zeit, halte inne, spüre in dich hinein und lege mal für die nächsten 3 Atemzüge jegliche Energien der Rechtfertigung und des Rechthabenwollens ab. Die nächste Schicht darunter ist wohl die Schicht der Verlezlichkeit, der Verzweiflung und Einsamkeit. Nun spüre das. Was spürst oder erahnst du unter dieser Schicht?
Vielleicht eine Art tiefer Verbundenheit, ein freudig-aufgeregtes Kribbeln, oder eine sanft brodelnde Stille?
Willkommen im Reich fernab der Verstrickung. Willkommen im Reich des echten Kontakts. Aus diesem Raum heraus ist Co-Kreation, statt Co-Abhängigkeit möglich.
Lösungsvorschlag:
Wenn du Lust hast, diesen Raum mehr zu erweitern, dann unterstütze ich dich gern dabei.
Verstrickungen zu lösen, kann sich vor allem am Anfang sehr herausfordernd anfühlen. Das ist es auch, schließlich haben wir es über mehrere Generationen so gelernt. Hier kann ich dir nur wärmstens die systemische Arbeit empfehlen. Diese arbeitet mit deinem Familiensystem und erörtert Stück für Stück, wo der Anfang deines verstrickten Fadens verborgen liegt.
Die systemische Arbeit biete ich ein Einzel-Sessions online oder in Leipzig an.
Besonders beliebt sind die Doppel-Coachings und Familienaufstellungen zusammen mit meiner Kollegin Roberta Gado.
Oder besuche unser Wut-Seminar im Mai, in dem wir uns unter anderem genau mit der Täter-Opfer Dynamik auseinandersetzen.
Ich freue mich, wenn dir dieser Artikel weitergeholfen hat. Hinterlasse mir gern Feedback im Kommentar.