Bild: Doris Reinholz, Marokko 2023
Bodynamic Körperpsychotherapie
– wie sich das ICH durch Bewegungserfahrungen formt
Aus Body Encyclopedia, A Guide to the Psychological Function von Lisbeth Marcher und Sonja Fich
Aus dem Englischen übersetzt von Doris Reinholz
Was ist Bodynamic?
Das Bodynamic System basiert auf dem Zusammenhang zwischen psychosozialen und motorischen Funktionen, also der Körperwahrnehmung, insbesondere der Wahrnehmung und dem Einsatz unserer Muskulatur.
Wir glauben, dass Menschen durch einen angeborenen Entwicklungsdrang gekennzeichnet sind. Das ICH wird durch Prozesse geformt, die aus diesem Drang entstehen, eng verbunden mit einer konstanten feinsinnigen körperlichen Bewegung und einem Gleichgewicht zwischen zwei grundlegenden Prinzipien, die wir gegenseitige Verbundenheit und Würde (= Bewusstsein des eigenen Wertes) nennen. Wir glauben, dass wir unsere Einzigartigkeit durch den Kontakt in Beziehungen und Interaktionen mit anderen entwickeln. Wir glauben auch, dass dieser Kontakt von einer solchen Qualität sein muss, dass jeder der Beteiligten sich in den Kontakt einbringen kann und etwas aus dem Kontakt erhält.
Wir glauben, dass die Prozesse, die die menschliche Persönlichkeit formen, vor der Geburt beginnen und sich das ganze Leben lang fortsetzen.
ICH-Bildung durch die Kodierelemente (Codes)
Jede Altersstufe bis zur Pubertät stellt ein Fenster dar, in dem das Kind neue kognitive und affektive Codes sowie Verhaltenscodes erkundet und lernt, die für dieses Alter spezifisch und oft einzigartig sind.
Jedoch findet gleichzeitig immer ein Prozess der motorischen Entwicklung statt. In jeder Altersstufe integriert das Kind neue Muskeln oder Muskelteile in seine willkürliche Motorik und entwickelt so die passenden neuen Bewegungsmuster bis zu diesem Alter. Diese Korrelation von psychologischer und motorischer Funktion impliziert, dass die Kodierungssysteme, die die psychologische Entwicklung umfassen, tatsächlich im Körper verwurzelt sind.
Jedes Mal, wenn wir etwas Neues ausprobieren, werden im Gehirn Strukturen entwickelt, die nach vielen Versuchen zu Kodierungen werden. In Codings integrieren wir die gesamte Situation und nicht nur Elemente davon. Kodierung geschieht im Kontakt mit anderen Individuen und bildet im Kind ein grundlegendes Wissen darüber, „wer ich bin“, „wie ich mich fühle“, „wie ich mich verhalten werde“ und mehr Wissen über „den anderen“ und dessen Handlungen. Auf diese Weise können wir die Hypothese aufstellen, dass das Lernen darüber, wer oder wie das ICH ist, durch das Erleben des ICHs in Interaktionen geschieht. Manche Kodierungen entstehen aber auch, wenn das Kind nicht mit anderen im Kontakt ist, sondern durch die Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und Tätigkeiten wie Malen oder in der Erde buddeln.
Im Bodynamic System sprechen wir von offenen Codes, geschlossenen Codes und unerforschten Codes. Diese Arten von Codes werden während der Kindheit gebildet, ihre Codierungsmuster werden durch die Interaktionen und Beziehungen zwischen dem Kind und Erwachsenen sowie dem Kind und anderen Kindern geformt.
Offene Codes
Offene Kodierungen entstehen, wenn Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen dem Kind gemäß seiner Entwicklungsstufe optimalen Kontakt und eine optimale Kommunikation anbieten. Auf diese Weise kann sich das Kind der Herausforderung öffnen und sie durch Unterstützung, Anpassung und Anleitung integrieren. So wird ihm oder ihr ermöglicht, die Fähigkeit, die die Situation bereithält, zu erlernen. Dadurch erreicht das Kind eine neue Entwicklungsstufe, von der aus es im gleichen Kontakt oder in neuen Kontakten weiter experimentieren kann. Einfach ausgedrückt: Offene Kodierungen bilden eine solide Grundlage für Kontakt und für höhere Entwicklungsstufen.
Geschlossene Codes
Geschlossene Codes werden gebildet, wenn ein Kind in der entsprechenden Entwicklungsstufe von seinen Eltern oder wichtigen Bezugspersonen keinen optimalen Kontakt erhält. Das Kind „schaltet“ sein Interesse an der Lernerfahrung aus und hält so jede weitere Erkundungsmöglichkeit und damit verbundene Entwicklung zurück. Einfach ausgedrückt: Geschlossene Kodierungen sind eine schwächere Grundlage für Kontakt und Entwicklung. Geschlossene Codes können wieder geöffnet werden und zu offenen Codes werden.
Unerforschte Codes
Unerforschte Codes ist schlummerndes Potential eines Menschen. Sie wurden im Kontakt nie fokussiert und wurden deshalb weder erlernt (wie bei Offenen Kodierungen) noch eingeschlossen (wie bei Geschlossenen Kodierungen). Jeder dieser Kodierungen könnte in der Zukunft erlernt oder eingeschlossen werden. Zum Beispiel wie man Bogen schießt, mit Tieren umgeht oder philosophische Diskussionen hält etc.Aber auch innerhalb dieser Tätigkeiten befinden sich noch unerforschte Codes, die uns ermöglichen, uns innerhalb eines Tätigkeitsbereiches weiterzuentwickeln.
Beispiel eines Open-Code Modells
Dieses Beispiel soll die Verwendung des Coding Models und das Konzept der offenen und geschlossenen Codierungen veranschaulichen.
Dies ist ein Beispiel aus dem täglichen Leben einer Familie mit einem Kleinkind, Maria (3 Jahre):
Lisbeth (Lisbeth Marcher ist die Begründerin von Bodynamic) besucht Freunde. Lisbeth und die Mutter sitzen in der Küche, die durch Türen sowohl mit dem Wohn- als auch dem Esszimmer verbunden ist. Diese Aufteilung ermöglicht es der Tochter Maria, herumzurennen, was sie zurzeit am liebsten macht. Sie ist drei Jahre alt und hat gerade gelernt, um Kurven zu laufen. Ihr Vater läuft ihr spielend hinterher, und die ganze Situation ist voller Energie. Maria lacht; sie will nicht erwischt werden und ist sehr fröhlich. Es herrscht eine fröhliche und leichte Atmosphäre im Raum. All dies ist Teil des Kontexts für das Folgende:
Plötzlich rutscht Maria auf dem Boden aus, stürzt und verletzt sich. Die Eltern trösten sie, ohne überfürsorglich zu sein, küssen ihr Bein, damit es wieder gesund wird, und legen ein Pflaster auf eine kleine Schürfwunde. Dann nimmt der Vater sie mit zurück an die Stelle des Sturzes, um herauszufinden, warum sie gestürzt ist. Sie entdecken, dass sie tatsächlich auf Wasser ausgerutscht war, das auf dem Boden verschüttet wurde. An der Hand ihres Vaters festhaltend probiert Maria aus, wie es ist auszurutschen. Gemeinsam wischen sie das Wasser auf, Maria spürt, dass die Rutschgefahr weg ist, und sie rennen wieder los.
In diesem Beispiel sind viele Elemente des Kodierungsmodells aktiv. Wir konzentrieren uns auf die Codierung, die im ersten Teil des Spielablaufs stattfand. Maria läuft herum. Sie hat dies schon früher getan, und ihr Laufen ist eine Open-Coding-Situation. Maria ist es hier möglich, diese Bewegung aktiv zu erforschen und weiterzuentwickeln. Auf diese Weise wird das Open Coding tatsächlich verstärkt. Maria rennt jetzt schneller, näher an den Kurven, und ihr Vater rennt hinter ihr her. Sie hat große Fortschritte gemacht, noch vor ein paar Tagen wollte sie an der Hand des Vaters laufen um sich sicher zu fühlen und nun rennt sie schon auf eigenen Beinen. All dies führt dazu, dass ihr Cortex immer wieder neues Open Coding empfängt und verarbeitet: die leichte, lockere, fröhliche Atmosphäre unter den Anwesenden sowie das Interesse aller, dass sie das Laufen um Kurven alleine beherrscht.
In diesem Zusammenhang praktiziert Maria die Ich-Funktion Soziale Balance und die Unterfunktionen (b) Sich selbst Zusammenreißen vs Loslassen, (c) seine eigene Position aufrechterhalten vs sich dem Raum fügen (die Spielregeln einhalten) , ( d) Persönliches Identitätsgefühl vs. Zugehörigkeit zu einer Gruppe und (e) Stressbewältigung in aufregenden Situationen. Die Situation ermöglicht es ihr, schärfere Kurven zu nehmen und sie schafft das auch.
All diese Elemente bilden ein Ganzes, das eine offene Codierung bildet: „Sie kann rennen, fallen und Hilfe bekommen, um herauszufinden, warum sie gefallen ist, damit sie das Spiel fortsetzen kann, schnell um Ecken zu rennen, und sich dabei freut.“ – was Maria zu a führt neue Stufe der Kompetenz, die es ihr ermöglicht, sich noch weiter zu entwickeln. Der offene Code gab Maria sofort den Wunsch, das Spiel fortzusetzen, und ihr Vater verstand die Nachricht und nahm am Spiel teil.
Der gleiche Fall mit einem Closed-Code Modell:
Hier beschreiben wir, wie der Sturz einen geschlossenen Code hervorgebracht haben könnte. Gehen wir noch einmal auf die Situation zurück, in der Maria stürzt, und stellen Sie sich diesen Ablauf vor: Marias Mutter erschrickt sehr, eilt herbei, hebt Maria auf, zeigt großes Mitleid, sagt ihr, wie gefährlich es ist, um die Ecke zu rennen, und schimpft dann mit dem Vater solche verantwortungslosen Spiele zu spielen. Dann gehen sie in die Küche, wo die Mutter anfängt, Maria ein Buch vorzulesen, während der Vater rausgeht und mit dem Hund verschwindet.
Die Mutter hat sich auf den Schmerz konzentriert. Sie sagt Maria, dass es gefährlich ist, um Ecken zu rennen, und die Botschaft wird noch ernster, weil die Stimme und das Verhalten der Mutter große Angst (in der Stimme und im Verhalten) zeigen. Sie gibt dem Vater die Schuld und nicht dem Wasser auf dem Boden.
Dieses Szenario könnte Maria dazu bringen, einen Closed Code zu bilden: „Spielweise um die Ecke zu rennen ist gefährlich, und die Freude verschwindet; ich habe einen Fehler gemacht und Papa hat einen Fehler gemacht, weil Mama nun Angst hat. Stillsitzen und einer Geschichte lauschen ist ungefährlich, also hat Mama mich gerettet.“
Innere Empfindung: meine Muskeln können mich nicht halten und ich falle hin und tue mir weh. Äußere Empfindung, die Mutter schreit und hat Angst. Deshalb bekommt Maria auch Angst. Impuls: Raus aus dem spielerischen Lauf mit Papa. Analyse: es ist besser (sicherer), ruhig und still zu sein (es tut nicht weh und Mama hat keine Angst).
All diese Elemente bilden ein Ganzes und in diesem Fall einen Closed Code, der Maria daran hindert, im Kontakt mit der Gruppe und im Gleichgewicht mit ihrer eigenen Freude und der guten Atmosphäre in der Gruppe ein neues Maß an Kompetenz im Kurvenlaufen zu erreichen. Maria hat das Spiel abgebrochen, Mama ist sauer auf Papa, Papa ist mit dem Hund gegangen, also ist das gute Gleichgewicht in der Familie (Gruppe) verschwunden.
Wenn sich eine ähnliche Situation mehrmals wiederholt, kann dies dazu führen, dass Maria später keine Lust mehr hat, schnell und vor allem nicht um Kurven zu laufen. Gleichzeitig wird sie wahrscheinlich die Erfahrung machen, dass sie, wenn sie zu schnell ist, den Kontakt verliert, oder dass sie das aufgibt, was ihr gut tut, um den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Hier ist eine interessante Wendung: Maria hat durch den Sturz indirekt gelernt, dass ruhiges Sitzen und Lesen eines Buches sicher ist und es einen sicheren Kontakt zu ihrer Mutter bietet, sodass Maria zu einem dieser Kinder werden kann, die lieber zu Hause sitzen, anstatt ihren Körper auf kraftvolle Weise zu benutzen. Dies kann sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. Lesen, ruhig sitzen und mit der Mutter in Kontakt sein ist ein offener Code, der andere Muskeln einbezieht, und es ist eine Ressource, obwohl er auf einem geschlossenen Code basiert.
Nachwort:
Im Coaching geschlossene Codes zu „knacken“, bedarf eines feinfühligen Hinschauens von Therapeut*in/Coach*in und Klient*in – und das ohne Druck. Dabei kann parallel auch das Bewusstmachen von offenen Codes, die jeder Mensch hat, äußerst wertvoll für sein, da dies dem Klienten/der Klientin ein Gefühl der Selbstwirksamkeit vermittelt und er ein besseres Verständnis dafür bekommt, wie er/sie selbst an Dinge „rangeht“. Durch das Zusammenspiel geschlossener und offener Codes, also einer ressourcenorientierten Herangehensweise, schöpft der Klient/die Klientin wieder Hoffnung und ein neugewonnenes Interesse, geschlossene Codes zu verändern. Auch unerforschte Codes zu entdecken, kann eine positive Lernerfahrung sein.
Ich hoffe dieser Artikel konnte dir auf deinem Weg ein Stück weiterhelfen!
Den vollständigen Text in Originalsprache (Englisch) findest du im Buch Body Encyclopedia von L. Marcher und S. Fich.