Vernebelte Weiten
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Oft sehen wir die Spitze des Berges nicht, den wir gerade besteigen. Manchmal sehen wir nicht mal mehr den Weg, der hinter uns liegt. Wir erfahren uns nur auf diesem ganz kleinen Teil, auf dem wir jetzt im Moment stehen. Ein winzig kleiner Ausschnitt, der für uns in diesem Moment die ganze Welt bedeutet. Wir erfahren uns im nebligen Dickicht aus Schichten feinster Projektionen und Glaubenssätzen. Manchmal ist der Nebel so dicht, dass selbst unsere eigene Hand darin versinkt. So drehen wir uns um unser selbst, in der Überzeugung, dass der Nebel eine unüberwindbare Mauer darstellt.
Und wenn auch nur ein winzig kleiner Sonnenstrahl erkennen lässt, dass der Nebel nur eine Masse aus transparenten verdampften Wassermolekülen ist, sind wir erstaunt, wie leicht es ist, durch ihn hindurchzuschreiten. Und sind überwältigt von der Weite, die uns aufeinmal entgegenblickt. Und inmitten der Weite türmt sich auf einmal der Berg auf, auf dem wir stehen – und blickt uns entgegen, in seinem majestätischen Antlitz.
Beide Momente können wir gleichermaßen in Angst und Starre als auch in vollkommener Annahme und Zufriedenheit erfahren. Wir können den Nebel als sicheres Nest erfahren, in den wir uns wonnig eingebettet fühlen. Wir können uns von ihm tragen lassen und uns von seinen Streicheleinheiten verwöhnen lassen. Uns darüber freuen, dass wir nicht das komplette Feld überblicken müssen und ihm Vertrauen schenken, dass er immer das Richtige im richtigen Moment für uns lichtet.
Oder wir können in Panik verfallen, dass wir nicht alles überblicken, was vor und hinter uns liegt. Wir können uns in der Angst schwelgen im eigenen nebligen Sumpf zu ertrinken. Wir können panisch nach Schlupflöchern suchen. Und schockiert feststellen, dass der Nebel niemals still ist, dass er stets weiterzieht, immer wieder eine andere Stelle verdeckt und aufdeckt.
Genauso können wir den Blick der unendlichen Weite genießen. Kein Wölkchen weit und breit. Unerschöpfliche Weiten. Unerschöpfliche Freiheit. Kein Hindernis wohin das Auge reicht. Wir ergötzen uns an der Unendlichkeit. Und genießen die Erfurcht vor diesem machtvollen Gebirge, welches sich da vor uns auftürmt. Genießen unser eigenes unbedeutsames Kleinsein. Und genießen, dass die Natur diese Unbedeutsamkeit einfach so hinnimmt. Dass sie nicht wertet, wer seiner Existenz mehr Individualität und Einzigartigkeit eingetrichtert hat. Dies können wir voll und ganz genießen.
Oder wir können erschrecken, vor dieser unüberwindbaren Macht, die der Berg und das ganze Universum ausstrahlt. Wir können Angst haben im Gedanken daran, wie hart und leidvoll die Bergbesteigung sein wird. Wir können in der Angst verfallen, dass das Universum unvorhersagbar ist und wir dessen Launen verfallen sind und feststellen müssen, dass wir keine Kontrolle darüber haben. Wir können panisch nach (Nebel)höhlen suchen, in denen wir uns verkriechen können um die unerschöpflichen Weiten, und die Gefahren, die sie bergen, nicht sehen zu müssen.
Ich befinde mich derzeit immer wieder im Wechsel dieser Perspektiven. Es ist unglaublich spannend mich darin zu beobachten. Und auch zu beobachten, dass es mir manchmal unmöglich erscheint, meine Perspektive zu ändern. Dass ich manchmal irgendwelchen höheren Mächten ausgesetzt zu sein scheine – oder schlichtweg irgendetwas in mir es gerade für wichtig empfindet, in genau dieser Perspektive zu verharren. Manchmal ist es anstrengend. Manchmal ist es schön. Und immer wieder faszinierend, wie schnell sich die Perspektive wandeln kann. Ein einziges Wort, eine einzige Umarmung, ein guter Kaffee, ein Bild, ein Tautropfen auf einer verwelkten Blüte, ein Schrei, ein Moment des Fallens, eine Änderung der Körperhaltung.
Entscheidungen werden immer kollektiv gefällt. Denn wir sind nie unabhängig.